Es dauert noch eine Stunde, bis die Glocken läuten. Wir sind in Vichel, einem kleinen verwunschenen Rundlingsdorf im Ruppiner Land, 80 km nordwestlich von Berlin. Eine Stunde, bis die Kirchturmglocken die Mittagspause einläuten. Helga Voß empfängt uns an der Eingangstür eines großen Fachwerkhauses. Seit 2016 bewohnt sie hier eine kleine Einliegerwohnung. Als sie uns hereinbittet, spüren wir sofort eine milde Wärme in ihren Räumen. „Es sind hier immer 20 Grad“ verrät sie uns. „Die Lehmwände machen es möglich.“ Wir fragen uns, ob uns die milde Wärme auch ohne ihre Anwesenheit begegnet wäre.


Gute Arbeit: Helga Voss, Keimzelle Vichel, Vichel

Helga Voß wird in diesem Jahr 80 Jahre alt. Oder jung. Sie ist eine dieser Frauen, die diese Verbindung von weiser Ruhe und Gelassenheit, gepaart mit wachem Interesse ausstrahlen, die Lust auf das Alter macht. Als wir ihr ein paar Wochen zuvor unweit ihrer Wohnung zum ersten Mal begegnen, steht sie in einem Garten in Vichel, der Keimzelle. Hier erzeugt ein Ex-Berliner „Auswanderer-Paar“ Demeter-zertifiziertes Öko-Saatgut alter Kulturpflanzen; ein Schaugarten zeigt alternative Anbaumethoden. Wir wissen in diesem Moment nicht, wer diese Frau ist, noch wissen wir um ihre Verbindung zu diesem Ort, dem Garten. Greifbar ist einzig: Da ist eine Verbindung. Es ist, als gehöre diese Frau in diesen Garten. Wir sprechen sie an und erfahren, dass „der Garten“ wie eine Art Anker in ihrem Leben ist. Immer war er da. Und sie in ihm.

„Im Garten kriegt man alles unter die Füße.“

Aufgewachsen ist Voß in Thüringen. Das Elternhaus, am Wald gelegen, hat einen Schattengarten. In der Jugend zieht es die Familie nach Ratzeburg in Schleswig Holstein. Der Vater leitet dort das Alumnat. Auch die Zeit ihrer Jugend verbindet sie vor allem mit Erinnerungen an den damaligen Garten. Sie lebt mittlerweile in Bonn, als sie ihren späteren Ehemann kennenlernt. Einen Banker. Als im Rheintal unweit von Bonn ein neues Gebiet erschlossen wird, erwirbt das Ehepaar „eine riesengroße Fläche. Ein wunderschöner Garten mit sieben Pflaumenbäumen.“

Sieben. Diese Zahl, so erzählt uns Helga Voß sichtlich beglückt, „tauche sowieso immer wieder in ihrem Leben auf.“ Es ist zu jener Zeit in Bonn, als sie bemerkt, dass sie sich „von den Anthroposophen angezogen fühlt.“ „Heute“ sagt sie, „bin ich Anthroposophin“. Die Wesensglieder des Menschen entwickeln sich annähernd in Siebenjahresperioden, so sagt es die Lehre Rudolf Steiners. Zunächst führt sie ihr Weg aber als Lehrerin an eine Hauptschule in Köln. Klassische Beamtenlaufbahn. „Doch gleich nach der Schule ging es in den großen Garten bei Bonn“, berichtet sie und man merkt an der Art und Weise, wie sie es tut, welche Bedeutung dieses Ritual für sie hatte. „Ich kam aus dem Garten nach Hause und wusste gar nicht mehr, worüber ich mich geärgert hatte.“ Der Garten ist der Platz, wo alles in Ruhe kommt, das Gleichgewicht wieder hergestellt wird, so scheint es, wenn man ihr zuhört.

„Ich habe immer nach etwas Anderem gesucht. Da war es.“

Nachdem sie diverse anthroposophische Kurse absolviert hat, beginnt sie eine Hospitanz an einer Waldorfschule. Sie lässt die gesicherte Beamtenlaufbahn als Lehrerin hinter sich und absolviert ein einjähriges Studium der Waldorfpädagogik in Witten. Dort ist es eine Kollegin, die ihr von Camphill erzählt, einer heilpädagogischen Bewegung, die auf den Prinzipien der Anthroposophie basiert. Camphills sind Wohngemeinschaften und Schulen, die Erwachsene und Kinder mit Lernbehinderungen Unterstützung im täglichen Leben bieten. Helga Voß findet eine Anstellung in Botton Hill in Südengland, dem seinerzeit ersten Camphill-Zentrum für erwachsene Lernbehinderte.


„Früher war ich schüchtern, später habe ich die Schüchternheit abgelegt und wurde mutig“ sagt sie, als wäre diese Entwicklung selbstverständlich und allein Erklärung genug für diesen Schritt einer Frau, die sich kurz vor ihrer Silberhochzeit „im Guten“ von ihrem Mann trennt und die Heimat verlässt. „In Camphill hat sich dann alles gefügt. Alles was ich wusste, konnte ich dort anwenden.“ „Ich war 49, Sieben mal Sieben, als ich Deutschland verließ“, erzählt sie mit einem Lächeln im Gesicht.

„Besitz bedeutet mir nichts.“

Da sie unter anderem die Schreibmaschine bedienen kann, findet sie ihre erste Aufgabe im Schreibdienst. Ihr wahrer Platz aber ist auch hier der Garten. „Die Hände müssen in die Erde. Das ist meine Aufgabe, glaube ich.“ erinnert sie sich. „Wunderschön“ sei er gewesen, der Garten in Camphill. Es ist eine Beschreibung, die sie für fast jeden Garten verwendet, von dem sie berichtet. Die Art, wie sie dies tut, lässt keinen Zweifel aufkommen, dass jeder dieser Gärten auf eine einzigartige Weise wunderschön ist. In ihrem Empfinden.

Zudem scheint es keinen Unterschied in ihrer Begeisterung zu geben, ob es sich nun um ihren eigenen oder einen fremden Garten handelt. Ihre Einliegerwohnung ist mit Mobiliar ihrer Eltern bestückt, Geschenken und ausrangierten Büchern ihrer Freunde. Helga Voß geht es nicht ums Haben. Es geht ihr um Tun selbst. Immer sucht sie sich selbst Betätigungen, beginnt einfach oder bietet ihre Arbeit an. Am liebsten im Garten.

„Man sieht, was man getan hat.“

Als ihre Mutter erkrankt, kehrt sie nach Ratzeburg zurück. Da ist sie selbst 60. „Ich dachte, es würden die anthroposophischen sieben Jahre.“ Es wurden letztlich acht Jahre, bis die Mutter verstarb. Während dieser Zeit arbeitet sie viel im Schrebergarten der Mutter. „Der Garten ist ein Ort der Erdung“, beschreibt sie es zunächst fast pragmatisch. Um nach einem kurzen Moment der Innenschau fast ungläubig und leiser anzufügen: „Ich nehme an, dass es mein Schicksal ist. Denn ich weiß Sachen, die habe ich nirgends gelesen, nirgends gehört. Ich weiß, das ist die Pflanze und die muss ich so behandeln. Das ist manchmal erschreckend.“

Ihre heutige Wohnung in Vichel findet sie – kaum zu glauben – auf der Suche nach einem Garten. Eine Freundin erzählt ihr vom Gemeinschaftshaus Schloss Vichel, ein Ort gelebter Inklusion auf anthroposophischer Grundlage. Eigentlich will sie hier eine Bleibe finden, aber das erweist sich als nicht passend. Dann hört sie, „dass da hinten zwei Gärtner in ihrem Garten sind.“ Sie macht sich auf den Weg zu den Gärten und kommt unterwegs an einem Haus vorbei, welches zu dieser Zeit in Eigenregie restauriert wird. Der Bauherr fragt sie, was sie denn hier suche. „Eine Wohnung“ erwidert Voß. „Die habe ich“, lautet die Antwort.


Am gleichen Tag einigt man sich per Handschlag. „Ich dachte, das ist es“, erinnert sie sich. Als sie ein paar Tage zur Probe in ihrer heutigen Bleibe wohnt, begegnet sie zum ersten Mal Eve Bubenik und Winnie Brand, den Besitzern der „Keimzelle“. In dem Garten, den sie eigentlich suchte und stattdessen eine Wohnung fand. „Kann ich hier was tun?“ fragt sie die Beiden, die sich in Vichel vor Jahren mit einem Bauwagen niederließen und heute Öko-Saatgut produzieren. Sie kann. Und sie darf wiederkommen. Seither arbeitet Voß im Garten von und mit Eve Bubenik und Winnie Brand. Freiwillig. Sie erhält dafür das ganze Jahr über Gemüse aus dem Anbau. „Die wissen um das Anthroposophische. Automatisch, aus dem Bauch heraus. Die müssen das nicht über den Kopf verstehen.“ erklärt sie ihr Gefühl von Gemeinschaft, das sie mit Eve Bubenik und Winnie Brand verbindet.

„Arbeite, aber arbeite immer maßvoll.“

Mittlerweile haben die Kirchturmglocken geläutet. Eigentlich Zeit für die Mittagspause: Helga Voß macht für uns eine Ausnahme. Regelmäßige Zyklen sind ihr sehr wichtig. „Um 12, da soll man sich um sein Essen kümmern. Um 6 soll man aufhören.“ Das hat sie während ihrer Zeit in Camphill gelernt und verinnerlicht. Von 9 bis 12 Uhr arbeitet sie im Garten. Nach anderthalb Stunden macht sie eine Pause. Mittags für gewöhnlich einen Mittagsschlaf. An sieben Tagen in der Woche. Wenn sie nicht im Garten ist, arbeitet sie am Computer. Übersetzungen ins Englische und Französische. Aufträge aus ihrem Anthroposophen-Netzwerk. Auf keinen Fall will sie von Anderen abhängig sein.


Was gibt ihr die Arbeit im Garten, fragen wir sie. „Zufriedenheit. Ruhe. Freude.“ So lautet ihre Antwort. Es sind Worte, die das tragen, was wir sogleich wahrgenommen haben, als wir ihr begegneten. Und wenn sie nicht mehr in den Garten könne? „Dann ginge ich ein wie ein Primelpöttchen.“ antwortet sie, ohne zu überlegen. Auch die Art und Weise der Arbeit im Garten unterliegt für Helga Voß klaren Prinzipien. „Man muss im Garten in Stille sein.“ Sie könne „nicht plappern mit jemandem.“ Es gehe „darum, zügig voran zu kommen.“ Und auch dann komme „etwas zurück, aus dem Garten. Das Lebendige, das Ätherische ist das Besondere im Garten.“

„Es sollte so sein. Es ist meine Bestimmung.“

Das Ätherische. Das liegt auch als Duft in ihrem Badezimmer. „Le jardin sur la nel. Der Garten über dem Nil. So heißt das Parfüm.“ erklärt uns Helga Voß. Sie liebt das Parfüm, welches sie von einer Freundin geschenkt bekam. „Der Garten, das ist mein Leben“ sagt sie uns am Ende unseres Gesprächs. Dabei strahlt sie tiefe Ruhe und ein inneres Wissen aus. So mag es sich vielleicht anfühlen, wenn jemand seine Berufung gefunden hat und diese auch bejaht. Als wir gehen, zeigt sie uns noch ein Bild, das ihr eine Freundin aus Camphill geschenkt hat. „Sie sagte, es hat mich sofort an dich erinnert, Helga.“ Es heißt „Primavera“. Der Frühling. „Ich bin ein Frühlingsmensch“, fügt sie an. Das Bild zeigt eine Frau in einem Kornfeld. Eine Person, scheinbar in ihrem natürlichen Element.

Am 12. April feiert Helga Voß ihren 80. Geburtstag. Man möchte diesen Tag gerne mit ihr zelebrieren, der innerlich und äußerlich Junggebliebenen. Und mit ihr mit den Händen in die Erde. Um vielleicht auch ein wenig dieser Magie zu spüren. „Man kann das gar nicht fassen. Man bleibt innerlich so jung. Durch die Arbeit im Garten und die Ernährung. Ich sage immer, das Schönste wäre, im Garten umzufallen. Klatsch. Das wars.“

Text: Lars von Hugo

21. März 2019

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