Der Gasthof Fuchsbräu in Beilngries, weit weg von ihrem letzten Einsatzort an diesem Tag. Dorothee Lieder möchte etwas Abstand gewinnen, vor unserem Gespräch. In 26 Jahren Arbeitsmedizin ist ihr in Unternehmen so manches begegnet, was sie als Ärztin nicht erzählen darf, aber schon früh konnte sie erkennen, welche Strukturen dazu führen, dass Arbeit unser Leben bereichern kann – oder uns krank macht.


Gute Arbeit: Dipl.Biol. D.H. Lieder, Arbeitsmedizinerin, Dachau

GA: Guten Abend Frau Lieder, wie geht es Ihnen heute und wie geht es den von Ihnen betreuten Unternehmen, bzw. deren Mitarbeitern, die Sie ja arbeitsmedizinisch versorgen?

Oh, da sehe ich ein buntes Bild. Seit 1991 habe ich Mitarbeiter von Banken und Versicherungen betreut, Stahlbau, Industriereinigung, was noch? Soziale Berufe, Ärzte im Krankenhaus, die lassen sich ja nur ungern untersuchen, manche gar nicht. Dann die Raffinerien in der Region, oh ja – und die Medien. Dort ist es momentan eine schwierige Situation. Die Digitalisierung bringt einen raschen und tiefgreifenden Wandel mit sich. Viele Mitarbeiter sind unruhig, haben Sorgen, manche Stress oder Zukunftsangst.

Was mich selbst angeht, muss ich sagen, dass die Arbeit mit meiner Lebenserfahrung einfacher und auch schöner geworden ist. Ich kann heute selbst viel gelassener sein und meinen Patienten besser, ganzheitlicher helfen als früher. Die öffnen sich mir heute richtig. Ich denke auch, dass ich mit meinen Besuchen und den vielen Gesprächen wirklich helfen, etwas Gutes bewirken kann. Darüber bin ich sehr froh.

GA: Was begegnet Ihnen bei Ihrer Arbeit, gibt es etwas, das Ihnen Sorge bereitet? Sind es vorherrschend solche branchenspezifische Beschwerden und Erkrankungen, oder sehen Sie auch Erscheinungen, die die moderne Arbeitswelt insgesamt betreffen?

Hm, ich würde sagen: Weder, noch. Die meisten besonderen branchenspezifischen Belastungen, wie z.B. aussergewöhnlich harte körperliche Arbeit, oder Tätigkeiten, die mit speziellen Gefahren verbunden sind, das allermeiste davon kennen wir inzwischen, das haben wir ganz gut im Griff. Im Umgang damit haben wir sozusagen eine gewisse, auch wirkungsvolle Routine entwickelt, da haben wir einfach ein hohes arbeitsmedizinisches Niveau, besonders, was die Prävention angeht. Das gilt auch für allgemeinen, am Arbeitsplatz entstehenden Druck und Stress, solange es ein gewisses Mass nicht überschreitet.

Was mir heute Sorgen macht, sind Erscheinungen, Phänomene, die häufig, aber eben auch nicht überall auftreten. Ich sehe sehr viel Burnout – einfach Erschöpfung, totale Erschöpfungszustände, Demotivation, Orientierungslosigkeit und wirklich beängstigende Verzweiflung. Ich möchte klar stellen, daß sich das eben nicht an speziellen Branchen festmachen lässt. Ich finde das in der Industrie genauso vor, wie in den Medien und im Gesundheitswesen. Gleichzeitig sehe ich in genau diesen Branchen auch Unternehmen, in denen so etwas gar nicht, oder nur in besonderen Einzelfällen auftritt.

Ich bin heilfroh, dass es das nicht überall gibt, denn dieser Zustand der vollständigen inneren Erschöpfung ist immer ein schwerwiegendes Problem. Nicht einfach zu erkennen, oft verheimlicht, schwierig zu kommunizieren und langwierig zu behandeln. Es ist meist eine grundsätzliche, eben eine strukturelle Angelegenheit.

GA: Was meinen Sie damit genau?

Ich denke, dass wir Arbeit in unserer Leistungsgesellschaft endlich etwas ganzheitlicher betrachten müssen, wir sind am Ende des Optimierungswahns angekommen. Ganz sicher müssen da beide Seiten dran arbeiten, die Chefs natürlich, aber eben auch die Arbeitnehmer selber. Es kann nicht sein, dass ich mir im Alltag permanent unerreichbare Ziele setze, oder solche gesetzt bekomme. Das muss auf die Dauer an die Substanz gehen. Arbeit hat doch eigentlich, wenn man es richtig macht, eine gesunde soziale und wirtschaftliche Funktion. Arbeit gibt unserem Leben Halt. Der Mensch möchte etwas tun, etwas leisten und bewirken. Wir können als Menschen aber nicht immer, ohne Unterbrechung Höchstleistungen erbringen. Trotzdem fordern das viele sogar von sich selber, auch im Privaten. Fitness, Fun, Familie, alles muss super sein. Tolles Auto, toller Job, natürlich in leitender Funktion. Dann Sport treiben, eine super Figur haben, den Kindern zugewandt sein, im Büro immerzu empathisch. Im Team, ständig im Team. Wenn dann die Chefs, die Führenden, das alles nicht sehen, diesen Druck, diese permanente Anstrengung, sondern selber auch so sind und ihre eigene Überforderung einfach nach unten weitergeben – dann kann auch mal jemand zusammenbrechen und dann ist erst mal Schluss. Dann entsteht ein sehr nennenswerter, vor allem aber vermeidbarer gesundheitlicher und auch wirtschaftlicher Schaden.

GA: Wo könnten wir Ihrer Meinung nach ansetzen, um diesem Problem zu begegnen? Was machen die Unternehmen besser, in deren Belegschaften so etwas, wie Sie sagten, weniger, oder gar nicht auftritt? Und was kann der Einzelne für sich selber tun?

Es ist auf jeden Fall etwas, das man als Unternehmen managen kann, das man sogar managen muss. Es geht um Menschenführung und zwar mit Gefühl und mit allen Sinnen. Bitte nicht die jungen Geschniegelten mit dem wahnsinnigen Biss. Bitte statt dessen mehr Demut. Wir sind schliesslich alle Autodidakten und Dilettanten – bei allem, was wir anfangen. Dann lernen wir, wenn uns jemand den Dienst erweist zu helfen, lernen wir noch besser. Helfen, besser gesagt, führen, ist also eine Dienstleistung und nicht, wie manche glauben, ein Privileg, das man erkämpfen und dann verteidigen muss. Die Führenden müssen ihre Qualifikation bitte auch erlernen, viele tun das nicht. Sie führen, völlig ohne dazu befähigt zu sein. Menschen zu führen ist eine sehr schwierige Aufgabe. Es geht darum, eine Struktur, ein Umfeld zu schaffen, in dem Menschen mit ihren ausgeprägten Fähigkeiten etwas leisten können und gerne wollen, ohne sich völlig zu erschöpfen. Diese Struktur braucht Klarheit, der Führende benötigt viel Kreativität, um sie immer wieder neu zu erschaffen, er muss die Stirn haben, auch einmal das Gespräch zu suchen und Verantwortung für das von ihm erschaffene Arbeitsumfeld zu übernehmen. Es braucht Rückendeckung, Lob, angemessene Kritik, konstruktiv. Die Mitarbeiter müssen denken dürfen, selber denken, sie müssen Fehler machen dürfen. Dafür benötigt der Führende viel Kraft, immer wieder Ideen, ein gesundes Selbstvertrauen. Es braucht schon Lebenserfahrung, um gut zu führen. Und Lebensfreude miteinander, auch in unserer Arbeitswelt, unbedingt. Es müssen Feste gefeiert werden.

Wissen Sie was mir wirklich aufgefallen ist, in all den Jahren? Na? Unternehmen, die in eine gute Führung investieren, die ihre Mitarbeiter als wertvolles Ganzes betrachten – sind erfolgreich, haben Erfolg, ausgeprägten, wirtschaftlichen Erfolg.

GA: Und der Einzelne, jeder arbeitende Mensch für sich genommen? Hat nicht jeder auch eine Verantwortung für sich selbst, seine eigene Arbeitssituation, seine Gesundheit und seinen Erfolg?

Hm. Ja natürlich. Das hatte ich ja anfangs schon gesagt. Man kann sich nicht total überfordern, immer und überall Spitzenleistungen erbringen. Wenn man gesund bleiben will und lange leistungsfähig, sollte man versuchen, sich zu entspannen, sich zu loben und auch mal nachsichtig zu sein. Wenn mir das möglich ist, wenn ich weiss, dass ich auch mal eine Pause bekomme, dann kann ich auch mal 150 % geben, wenn es gerade wirklich wichtig ist.

Ich habe das ja auch, hatte ich vorhin schon angedeutet, an mir selber erlebt. Die ganze Erfahrung, die ich jetzt habe, die brauchte ich auch, um mit meiner eigenen Arbeit immer besser, wirkungsvoller auf der einen Seite, gleichzeitig aber auch zufriedener und gelassener zu werden. Ich musste erst sehr viel lernen, vor allem über die Menschen mit denen ich arbeite, bevor ich für mich selbst und dadurch auch für Andere die wirklich „Gute Arbeit“ entfalten konnte. Dazu gehörte aber eben auch, nicht immer so verbissen zu sein. Es ist Arbeit. Wir sollten durchaus auch mal drüber lachen dürfen. Mit Humor können Sie vieles erreichen.

21. März 2019

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